Wir befinden uns in einer tiefen Erschütterung. Die letzten Jahre haben uns auf uns selbst zurückgeworfen, wir haben Verluste erlebt, Einsamkeit, Überforderung. Fast alle Gewissheiten einer gefühlt sicheren Normalität stehen in Frage. Und dass wir noch größeren Veränderungen entgehen sehen, zeigt der fundamentale Angriff auf die Illusion von Frieden und Sicherheit demokratischer Fundamente, in der wir uns in Europa wähnten. Krieg, Flucht und Vertreibung sind unglaublich nah gerückt, real waren sie schon immer. Unsere Welt ändert sich radikal – ob wir wollen oder nicht.Wir sind verletzbarer geworden und dünnhäutig. Aber wir haben auch scheinbar Selbstverständliches neu schätzen gelernt, wir haben über Solidarität und Mitgefühl zumindest nachgedacht. Und aus dem Schlimmsten das Beste erfunden. Was diese Zeit mit uns als Gemeinschaft macht, ist noch gar nicht abzusehen – dass sie uns verändert, ist sicher. Dass wir uns verändern müssen, um die Demokratie zu bewahren.
In dieser Zeit der ungeheuren Spaltung, der aufbrandenden Gewalt, der sich verknappenden Ressourcen glauben wir weiter an die verbindende und tröstliche, aber auch revolutionäre Kraft des Theaters. Wer, wenn nicht das Theater, könnte unsere Utopien erfinden; sich empathisch in die einfühlen, die sich (noch) nicht zugehörig fühlen; uns ganz nah zusammen bringen (endlich wieder!), um gemeinsam Geschichten zu erzählen. Wer, wenn nicht das Theater, könnte politisch sein, ohne manipulativ zu werden; könnte offen sein und dennoch Haltung haben – ein Transit-Ort, an dem wir uns kühn fühlen können und gleichzeitig aufgehoben.
Foto: © Axel J. Scherer