Die Frage danach, »wer wir sind«, beschäftigt uns als Individuen wie als Gemeinschaften seit Menschengedenken. Von »Identität« im modernen Sinn spricht die Sozialpsychologie erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Wir beschreiben diese mit kollektiven Kategorien wie Religion, Nationalität, Hautfarbe, Klasse, Kultur oder Geschlecht – politischen Kategorien der Zugehörigkeit wie der Abgrenzung, die ihre moderne Gestalt im 19. Jahrhundert erhielten. Sie prägen unser Denken und Handeln bis heute, und es gilt mehr denn je, sie zu hinterfragen. Wirkmächtig und umkämpft wie nie, führen sie in die heikelsten Debatten unserer Zeit.
In seinem Buch »Identitäten« zeigt der Philosoph Kwame Anthony Appiah, wie paradox jene Zuschreibungen oftmals sind und beschreibt sie als »Fiktionen der Zugehörigkeit«. Die Erkenntnis, »dass Identität durch Wandel überlebt – und sogar nur durch Wandel überleben kann –«, so Appiah, kann uns den Weg weisen: »Identität erweist sich als ein Tun, nicht als ein Ding. Und es ist das Wesen jeglichen Tuns, Veränderungen hervorzubringen.« Identitäten sind also wandelbar und müssen es sein. Sie leben in der Geschichte und in Geschichten.
Geschichten sind Kern unserer Identität. Der Literatur und ihrem Vermögen, die Perspektiven zu wechseln, kommt in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung zu. Sie vermag es, Zuschreibungen von außen zu hinterfragen und zu überzeichnen, Identitäten zu konstruieren und aufzulösen; und auch das Schreiben »auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, auf ein fragmentiertes Selbst hin, kann als ein Akt des Zuschreibens verstanden werden.
Mit der Wuppertaler Literatur Biennale 2022 und ihrem Motto »Zuschreibungen« möchten wir vom 3. bis 10. September Autor*innen mit möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln einladen, welche die Debatten zur Identitätspolitik bereichern. Sie alle schärfen unseren Blick darauf, was es heißt, heute Mensch zu sein.